Weinen: Ist es gut für uns oder doch overrated?

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Eine Frage des Geschlechts

Weinen ist etwas, das uns allen passiert – ob aus Trauer, Wut, Freude oder purer Überwältigung. Ein emotionales Ende von einem Film, ein Abschied oder auch ein ehrlich gemeintes Kompliment ist für viele Menschen der Auftakt zum Weinen. Doch nicht allen geht es gleich: Interessant dabei ist, dass Weinen für verschiedene Menschen sehr unterschiedlich funktioniert. Vor allem zwischen den Geschlechtern gibt es deutliche Unterschiede: Während Frauen durchschnittlich häufiger weinen, ist es für Männer oft schwieriger, Tränen zuzulassen. Hormonelle Einflüsse, wie das Stresshormon Prolaktin, spielen hier eine Rolle, aber auch gesellschaftliche Erwartungen haben einen großen Einfluss. Männer werden oft dazu angehalten, „stark“ zu sein und ihre Gefühle nicht zu zeigen. Das führt dazu, dass Weinen nicht nur ein persönliches, sondern auch ein kulturelles Thema ist. Schon im Kindesalter wird Jungen beigebracht, dass sie nicht weinen sollten, und der Spruch „Indianer kennen keinen Schmerz“ ist bis heute weit verbreitet. Diese Einstellungen tragen dazu bei, dass Männer bis heute weniger weinen. Das Phänomen ist Gegenstand zahlreicher Studien. Eine große Untersuchung in 37 Ländern ergab, dass Frauen weitaus öfter weinen als Männer. Dabei vergießen beide Geschlechter im Kindesalter noch etwa gleich viele Tränen. Bereits Darwin (1872) setzte sich mit diesem Thema auseinander und beschrieb den Ausdruck und das Auftreten von Weinen bei Zuständen von Unwohlsein, Hunger oder Schmerz. Die entscheidende Frage lautet: Ist Weinen tatsächlich eine positive Erfahrung für uns oder wird es möglicherweise überbewertet?

Physiologie des Weinens

Zunächst lohnt es sich, einen Blick auf die körperlichen Vorgänge zu werfen, die durch das Weinen in uns ausgelöst werden. Die Tränenproduktion wird von der Tränendrüse geregelt, die bei jedem Blinzeln das Auge befeuchtet und es vor Trockenheit sowie Infektionen schützt. Dann muss zwischen verschiedenen Arten von Tränen unterschieden werden: Basale Tränen, die das Auge immer befeuchten, Reflextränen, die durch Reizstoffe wie Rauch oder Zwiebeln entstehen, und eben emotionale Tränen, die bei starken Gefühlen wie Traurigkeit, Freude oder Wut fließen. Diese emotionalen Tränen enthalten mehr Stresshormone wie Cortisol und Endorphine, die mit den Tränen ausgeschieden werden – das erklärt, warum man sich oft erleichtert fühlt, nachdem man geweint hat. Das limbische System im Gehirn, unser emotionales Zentrum, steuert diesen Prozess. Gleichzeitig aktiviert Weinen das parasympathische Nervensystem, das uns nach intensiven Gefühlen hilft, wieder zur Ruhe zu kommen.

Warum Weinen oft heilend ist

Weinen hat nicht ohne Grund den Ruf, „reinigend“ zu sein. Wenn wir weinen, baut unser Körper Stresshormone ab, was zu einem Gefühl der Erleichterung führen kann. Das erklärt auch, warum viele sich nach einem emotionalen Ausbruch ruhiger und klarer fühlen. Es gibt uns die Möglichkeit, Emotionen zu verarbeiten, die wir vielleicht nicht auf andere Weise ausdrücken können. Besonders nach schmerzhaften Erlebnissen wie einem Verlust oder einer großen Enttäuschung kann das Zulassen der Tränen helfen, den Heilungsprozess in Gang zu setzen. Weinen ist eine Form von emotionaler Verarbeitung und hilft uns dabei, unbewältigte Gefühle loszulassen.

Weinen aktiviert zudem auch unser parasympathisches Nervensystem, das für Entspannung und Erholung sorgt. Es ist also eine Art eingebauter Stressabbau. Besonders in Situationen, in denen man sich emotional überfordert fühlt, kann Weinen helfen, wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen – eine Art Reset für Körper und Geist. In besonders stressigen Momenten ist Weinen also wie ein Ventil, das Druck ablässt. Es hilft uns, innerlich durchzuatmen und gibt Raum, unsere Gefühle zu sortieren. Außerdem zeigt es anderen, dass wir gerade Unterstützung brauchen – oft führt das zu mehr Nähe und Mitgefühl in Beziehungen. Tränen machen uns verletzlich – und genau diese Verletzlichkeit kann eine tiefere Verbindung zu uns selbst und zu anderen schaffen.

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Warum weinen bei der GenZ zum Trend wird

Ein Trend in punkto Weinen ist auf Social Media zu erkennen: Auf TikTok und Instagram teilen Influencer und Models wie Bella Hadid immer häufiger emotionale Momente, oft mit Tränen in den Augen. Weinen wird so zu einem Zeichen für Authentizität und Verwundbarkeit. Für viele „GenZler“, die mit der Digitalisierung aufgewachsen sind, ist es ein Weg, echte Gefühle auszudrücken und sich selbst zu akzeptieren. Allerdings sollte man darauf achten, dass dieser Trend nicht oberflächlich bleibt. Es besteht die Gefahr, dass Weinen als bloßer Hype betrachtet wird, ohne tiefere Bedeutung. Echte Verletzlichkeit verdient Verständnis, und es sollte nicht nur darum gehen, Aufmerksamkeit zu erregen
Bella Hadid’s Foto ist wieder von ihrem Instagram Account gelöscht.

Wann Weinen uns schaden kann

So heilsam Weinen auch sein kann, es gibt Situationen, in denen es weniger gut für uns ist. Wenn Weinen zur Dauerlösung wird und keine Erleichterung bringt, könnte das auf tieferliegende Probleme wie Depressionen oder Angststörungen hinweisen. In solchen Fällen verstärkt Weinen oft das Gefühl von Hilflosigkeit und zieht uns weiter in die emotionale Tiefe, anstatt zu helfen. Übermäßiges Weinen kann zudem körperlich anstrengend sein. Viele Menschen klagen über Kopfschmerzen, Erschöpfung und Schlafstörungen, wenn sie häufig weinen. Anstatt Erleichterung zu bringen, fühlt man sich oft nur noch müder und ausgelaugter. Auch die Konzentration und Leistungsfähigkeit leiden darunter.

Außerdem gibt es soziale Aspekte zu bedenken: Manchmal können sich Mitmenschen von dem Weinen des anderen überfordert fühlen und sich dann sogar zurückziehen, was das Gefühl der Einsamkeit bei den Weinenden verstärkt. Es ist natürlich wichtig, offen über unsere Gefühle zu sprechen und die Menschen in unserem Umfeld darüber zu informieren, dass wir gerade emotionale Unterstützung brauchen. Doch oft erwarten wir, dass andere intuitiv reagieren und uns Trost spenden, aber das ist nicht immer der richtige Weg. Eine häufige Annahme ist, dass nur weil wir über unsere Probleme sprechen, unser Gegenüber automatisch die Zeit und Energie hat, die Rolle des Trösters einzunehmen. Hier ist eine beidseitige Kommunikation gefragt. Nur so können wir Missverständnisse vermeiden und enge Beziehungen fördern, selbst in emotional schwierigen Zeiten. Offenheit schafft Verständnis, und manchmal ist es ebenso wichtig zu hören, wie es dem anderen geht, während wir unsere eigenen Bedürfnisse teilen. Wenn das Weinen und die Traurigkeit jedoch überhandnehmen, kann es sinnvoll sein, ein:e Therapeut:in aufzusuchen. Ein Fachmann kann dabei helfen, die Emotionen besser zu verarbeiten und Strategien zu entwickeln, um mit schwierigen Gefühlen umzugehen, ohne dabei die eigenen Angehörigen übermäßig zu belasten.

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Was tun, wenn man nicht weinen kann?

Manche Menschen fühlen sich emotional aufgewühlt und möchten weinen, doch die Tränen bleiben aus. Oft liegt es an emotionalen Blockaden, die uns daran hindern, uns zu öffnen. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, unsere Gefühle zu unterdrücken, dass wir uns nicht mehr „erlauben“, verletzlich zu sein. Insbesondere Männer sind häufig mit der Erwartung konfrontiert, stark und unemotional zu sein, was durch die sogenannte „toxische Männlichkeit“ verstärkt wird. Diese gesellschaftlichen Normen können dazu führen, dass Männer sich nicht „erlauben“, verletzlich zu sein. Die Hürden können ebenfalls besonders stark ausgeprägt sein, wenn wir traumatische Erlebnisse erlebt haben, bei denen das Weinen als Schwäche wahrgenommen wurde.

In solchen Momenten ist es wichtig, sich Raum für Emotionen zu geben. Das kann durch das Anhören trauriger Musik geschehen oder durch das Anschauen eines rührenden Films. Diese Ansätze können oft helfen, den emotionalen Knoten zu lösen und den Zugang zu unseren eigenen Gefühlen zu finden. Auch das Schreiben über die eigenen Empfindungen, sei es in einem Tagebuch oder in Briefen an uns selbst, kann sehr befreiend sein. Ein offenes Gespräch mit vertrauten Menschen kann ebenfalls hilfreich sein. Manchmal braucht es nur den richtigen Anstoß, um die Tränen freizusetzen. Letztlich geht es darum, sich selbst die Erlaubnis zu geben, verletzlich zu sein und die eigenen Gefühle ernst zu nehmen.

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Fazit: Soll man Weinen unterdrücken oder laufen lassen?

Die große Frage, die viele von uns beschäftigt, ist: Ist es besser, die Tränen zurückzuhalten oder sie fließen zu lassen? Die Antwort lautet: Lass es laufen, wenn du kannst! Weinen ist keine Schwäche, sondern eine gesunde, natürliche Reaktion auf starke Emotionen. Es hilft uns, Stress abzubauen, Gefühle zu verarbeiten und uns wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Natürlich gibt es Momente und Situationen, in denen Weinen nicht angebracht scheint. In beruflichen Umfeldern beispielsweise kann das Zeigen von Emotionen, wie Weinen, oft als unprofessionell wahrgenommen werden. In solchen Kontexten ist es ratsam, die Emotionen zunächst zu regulieren und später in einem geeigneteren Rahmen zu verarbeiten. Zudem gibt es auch Momente, in denen trotziges Weinen nicht viel bringt und uns mehr frustriert als beruhigt. Es ist wichtig, die Ursachen unserer Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren, anstatt sie einfach durch Weinen auszudrücken, wenn es nicht die gewünschte Erleichterung bringt. Gleichzeitig sollte man sich jedoch nicht unter Druck setzen, wenn man nicht weinen kann. Es ist vollkommen normal, Phasen zu haben, in denen die Tränen ausbleiben, egal wie stark der Wunsch ist, sie fließen zu lassen. Stress und das Gefühl, die eigenen Emotionen nicht im Griff zu haben, können diesen Zustand nur verstärken. Daher ist es wichtig, sich selbst die Zeit und den Raum zu geben, um die Emotionen auf eigene Weise zu verarbeiten – sei es durch Gespräche, kreativen Ausdruck oder Meditation. Am Ende ist Weinen eine der menschlichsten Arten, mit Emotionen umzugehen – und das sollte man sich nicht nehmen lassen. Indem wir lernen, sowohl das Weinen als auch das Nicht-Weinen zu akzeptieren, können wir zu einer gesünderen und authentischeren Beziehung zu unseren Gefühlen gelangen.

 

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