Querschnittslähmung kann jeden treffen
Weltweit leben mehr als 2,7 Millionen Menschen mit einer Querschnittslähmung, jedes Jahr kommen rund 130.000 neue Fälle hinzu. In Österreich sind etwa 50.000 Menschen auf einen Rollstuhl angewiesen, rund 4.000 davon aufgrund einer Querschnittslähmung. Und auch wenn wir es im Alltagsstress vergessen: Es kann jeden von uns treffen – unabhängig von Alter oder bisherigem Gesundheitszustand.
Doch nun gibt es eine neue vielversprechende Methode, die Hoffnung auf mehr Beweglichkeit und weniger Schmerzen gibt: die transkutane spinale Stimulation (TSCS). Aber wie genau funktioniert diese Technik?
Ein Leben ohne Kontrolle
Das Leben mit einer Querschnittslähmung ist eine große Herausforderung, da sie tiefgreifende Auswirkungen auf die körperliche Beweglichkeit und das alltägliche Leben hat. Sie entsteht in der Regel durch eine schwere Verletzung des Rückenmarks, zum Beispiel nach einem Unfall, einem Sturz, einem Schlaganfall oder durch Krankheiten wie Tumore oder Infektionen.
Das Rückenmark ist die zentrale Verbindung zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers, und eine Schädigung an diesem Ort kann die Nervenleitung unterbrechen, wodurch der Verlust der Kontrolle über bestimmte Körperfunktionen entsteht. Je nach Höhe der Rückenmarksverletzung können die Lähmungen sowohl die oberen als auch die unteren Gliedmaßen betreffen.
Neben der Lähmung der Extremitäten sind oft auch wichtige Körperfunktionen wie Bewegung, Empfinden sowie Atmung und Verdauung betroffen. Für die Betroffenen bedeutet dies nicht nur den Verlust von Beweglichkeit, sondern auch oft den Verlust von Unabhängigkeit und Lebensqualität, was das Leben mit einer Querschnittslähmung zu einer schweren Herausforderung macht.
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Die Herausforderungen der aktuellen Therapien
Trotz zahlreicher Fortschritte in der Medizin gibt es noch immer viele Hürden bei der Behandlung von Querschnittslähmung. Die herkömmlichen Therapiemöglichkeiten, die derzeit zur Verfügung stehen, haben ihre eigenen Herausforderungen und Einschränkungen:
1. Medikamentöse Behandlung
Medikamente zur Behandlung von Spastizität, die bei vielen Querschnittslähmungspatienten häufig auftritt, bieten nur eine begrenzte Linderung und haben oft unangenehme Nebenwirkungen. Diese Medikamente wirken nicht selektiv und können nicht nur die Spastizität dämpfen, sondern auch die Willkürmotorik – also die bewusste Kontrolle der Muskeln – unterdrücken.
Das bedeutet, dass die Patient:innen zwar weniger Muskelkrämpfe haben, aber gleichzeitig ihre Bewegungsfähigkeit noch weiter eingeschränkt wird. Zudem machen viele dieser Medikamente müde, was die Lebensqualität der Betroffenen weiter beeinträchtigt.
2. Physiotherapie und Ergotherapie
Diese Formen der Therapie sind wichtig und notwendig, aber ihre Wirkung ist oft begrenzt. Sie können helfen, die verbleibende Beweglichkeit zu erhalten oder zu verbessern, jedoch sind Fortschritte häufig sehr langsam und nicht immer signifikant. Für viele Patient:innen können diese Therapien nicht genug Linderung oder Fortschritte in der Beweglichkeit bringen, um ihre Lebensqualität erheblich zu verbessern.
3. Chirurgische Eingriffe
In manchen Fällen werden invasive Verfahren wie Operationen in Erwägung gezogen, um bestimmte Symptome zu lindern. Diese Eingriffe sind jedoch risikobehaftet, teuer und können nicht immer den gewünschten Erfolg bringen. Sie stellen außerdem eine erhebliche Belastung für den Körper der Patient:innen dar
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Spastizität: Ein unsichtbarer Feind
Die Behandlung von Querschnittslähmungen ist ein langwieriger Prozess, und trotz intensiver Forschung gibt es nur begrenzte Möglichkeiten, die Beweglichkeit und Kontrolle über Körperfunktionen wiederherzustellen. Fortschritte sind oft nur langsam spürbar, was bei vielen Patienten Frustration auslöst.
Eines der größten Probleme ist bei einer Querschnittslähmung die Spastizität – ein Zustand, bei dem sich die Muskeln unkontrolliert anspannen. Diese schmerzhaften Muskelkrämpfe können die Beweglichkeit erheblich einschränken. Im schlimmsten Fall führt Spastizität dazu, dass die Betroffenen ihre Muskeln kaum noch bewusst steuern können, was das alltägliche Leben enorm erschwert.
Um Spastizität zu behandeln, gibt es verschiedene Methoden. Viele Patient:innen erhalten Medikamente, die die Muskelspannung verringern sollen. Doch diese Medikamente haben oft Nebenwirkungen: Sie machen müde, dämpfen die Willkürmotorik (also die bewusste Kontrolle der Muskeln) und wirken nicht immer so gezielt, wie man es sich wünscht.
Eine Behandlungsmethode ohne Operation
An dieser Stelle kommt die transkutane spinale Stimulation (TSCS) ins Spiel: Diese Methode könnte eine deutlich präzisere und wirkungsvollere Lösung bieten. Dabei werden spezielle Elektroden auf die Haut aufgebracht, die elektrische Impulse an das Rückenmark senden. Diese Impulse aktivieren gezielt Bereiche im Rückenmark, die für die Steuerung von Bewegungen und Muskeln verantwortlich sind.
Das Besondere an TSCS ist, dass es sich um eine nicht-invasive Methode handelt. Das bedeutet, dass keine Operation oder aufwändige Eingriffe erforderlich sind. Stattdessen wird die Stimulation sicher und unkompliziert über die Haut durchgeführt.
Diese Methode könnte Menschen mit Querschnittslähmung nicht nur helfen, ihre Beweglichkeit zurückzugewinnen, sondern auch die schmerzhaften Muskelkrämpfe zu lindern, mit denen viele Betroffene oft zu kämpfen haben.
Wie TSCS den Körper neu aktiviert
Die Forscher:innen der MedUni Wien, unter der Leitung von Ursula Hofstötter und Karen Minassian, wollten herausfinden, wie TSCS wirklich auf den Rückenmark wirkt. Dafür analysierten sie die Reaktionen des Rückenmarks von Menschen mit Querschnittslähmung, die unter Spastizität litten, bevor und nach einer 30-minütigen TSCS-Behandlung.
Was sie herausfanden, war ein echter Durchbruch: Sie konnten erstmals nachweisen, dass die elektrischen Impulse, die durch die Elektroden an das Rückenmark gesendet werden, gezielt die Nervenschaltkreise im Rückenmark aktivieren, die für die Hemmung von Spastizität verantwortlich sind. Diese Schaltkreise wirken wie ein „Bremssystem“ für die Muskeln. Sobald sie aktiviert werden, können sie die unkontrollierte Muskelanspannung verringern, ohne die gesamte Bewegungsfähigkeit zu blockieren.
TSCS hat auch einen positiven Effekt auf die Willkürmotorik – also die Fähigkeit, die Muskeln bewusst zu steuern. Das bedeutet, dass Menschen mit Querschnittslähmung nicht nur von einer Linderung der Spastizität profitieren können, sondern auch wieder mehr Kontrolle über ihre Bewegungen zurückgewinnen könnten.
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Warum TSCS die Behandlung verändert
Die Entdeckung, dass TSCS so gezielt wirkt, ist ein echter Durchbruch in der Behandlung von Querschnittslähmung und Spastizität. Bisher war es schwer, eine Behandlung zu finden, die nur die problematischen Muskeln beeinflusst, ohne den Rest des Körpers lahmzulegen. TSCS jedoch hilft, die richtige Balance zu finden – sie dämpft die Spastizität, ohne die normale Muskelaktivität zu stören.
Ein weiterer Vorteil von TSCS ist, dass sie im Vergleich zu herkömmlichen Medikamenten keine unangenehmen Nebenwirkungen hat. Während viele Medikamente zur Behandlung von Spastizität die Patient:innenmüde machen und die Kontrolle über die Bewegungen einschränken, wirkt TSCS gezielt und ohne unerwünschte Effekte.
Blick in die Zukunft
Die Ergebnisse dieser Studie bieten einen spannenden Ausblick auf die Zukunft der Neurorehabilitation. Schon jetzt wird TSCS in einigen renommierten Kliniken in den USA und der Schweiz angewendet – und die Methode zeigt dort vielversprechende Erfolge. Wenn sie weiter erforscht und in der klinischen Praxis etabliert wird, könnte sie vielen Menschen mit Querschnittslähmung helfen, ihre Beweglichkeit zu steigern und die schmerzhaften Muskelkrämpfe der Spastizität zu lindern.
Die Forscher:innen hoffen, dass ihre Entdeckung dazu beiträgt, die TSCS als standardisierte Behandlungsmethode zu etablieren. Sie sind zuversichtlich, dass die Methode in Zukunft eine der wichtigsten Therapieoptionen bei der Behandlung von Querschnittlähmung werden könnte. TSCS hat das Potenzial, die Neurorehabilitation auf ein neues Niveau zu heben – und den Betroffenen eine echte Chance auf mehr Bewegungsfreiheit und ein selbstbestimmteres Leben zu geben.