Die Netflix-Serie Adolescence nimmt uns mit auf eine Reise durch das Leben von Jamie, einem jungen Mann, dessen Welt von Mobbing, sozialer Ausgrenzung und den Gefahren toxischer Online-Communities geprägt ist. Es ist eine Geschichte, die den digitalen Einfluss auf das Selbstbild und die psychische Gesundheit von Jugendlichen thematisiert – und besonders junge Männer stehen hier im Fokus.
In unserem Interview erklärt die Psychiaterin Dr. Harmankaya, warum gerade Social Media ein verstärkender Faktor für negative Entwicklungen in der Jugend sein kann und welche Auswirkungen diese auf das Sozialverhalten haben.
“Adolescence” über Mobbing und seine psychischen Spuren
Mobbing ist ein Thema, das leider zu viele junge Menschen betrifft – und es hat weitreichende Folgen, die das Leben der Betroffenen für immer verändern können. Elisabeth Harmankaya erklärt: „Mobbing kann massive Auswirkungen auf einen Menschen haben, gerade wenn jemand sehr jung ist und das Selbstbild nicht gefestigt ist.”
Die ständige Ausgrenzung führt nicht nur zu einem verringerten Selbstwertgefühl, sondern kann auch Depressionen und Angststörungen hervorrufen. In besonders schweren Fällen führt dies sogar zu Selbstmordgedanken.
Doch die Auswirkungen gehen noch weiter: Mobbing beeinflusst das Sozialverhalten nachhaltig und kann dazu führen, dass Betroffene Schwierigkeiten haben, stabile Beziehungen aufzubauen oder Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen.
Social Media als Verstärker: Eine “Bubble” aus toxischen Ideen
Heute verbringen viele Jugendliche einen großen Teil ihres Lebens in sozialen Netzwerken. Plattformen wie Instagram, TikTok oder YouTube sind nicht nur Orte der Unterhaltung, sondern auch wichtige Räume für die Selbstfindung und Identitätsbildung.
Doch genau hier lauern auch Gefahren, wie auch die Serie Adolescence zeigt: „Diese Plattformen verstärken Sichtweisen, die nicht nur extrem, sondern auch gefährlich sein können”, erklärt Elisabeth Harmankaya, dass Social Media nicht nur eine Bühne für Lifestyle und Spaß ist, sondern auch ein Nährboden für toxische Online-Communities, in denen sich besonders Jugendliche, die sich ausgeschlossen fühlen, wiederfinden können.
„Social Media Plattformen sind ja sehr algorithmusbehaftet, und bei diesen Extremen – wie bei Jamie das toxische Männerbild – wird alles sehr schwarz/weiß gedacht und schnell eine Zugehörigkeit geformt“, so Harmankaya. In einer Entwicklungsphase, in der das Weltbild noch nicht gefestigt ist, können diese radikalisierten Ideen besonders gefährlich sein.
Toxische Männlichkeitsbilder: Der Einfluss von Influencern wie Andrew Tate
Ein besonders prägendes Thema der Serie Adolescence ist das Bild eines „echten Mannes“, das von Influencern wie beispielsweise Andrew Tate verbreitet wird. Diese sogenannten Vorbilder propagieren eine Männlichkeit, die vor allem von Dominanz, Härte und Gefühllosigkeit geprägt ist.
„Solche Vorbilder sind natürlich fatal – hier wird eine ‚echte Männlichkeit‘ suggeriert, bei der es sehr viel darum geht, dass man dominant sein sollte sowie auch seine Gefühle nicht zeigen sollte. Auch Frauen sollten wieder in das alte Bild gedrängt werden, Männer wieder das starke Geschlecht sein, und das seien die wahren Werte”, warnt Harmankaya.
Diese toxischen Ideale fördern ein ungesundes Rollenverständnis, das Aggression als Stärke darstellt und das Bild eines Mannes verbreitet, der keine Schwäche zeigen darf. „Gerade junge Männer, die beispielsweise kein gutes reales männliches Vorbild haben oder wenig sozialen Rückhalt, sind dafür besonders empfänglich. Und natürlich potenziert sich das mit dem Freundeskreis, und hier lernen sie, dass Aggression etwas Gutes ist und sie damit Frauen unterwerfen können“, erklärt die Psychiaterin weiter.
In der Serie wird deutlich, dass der Protagonist sich ungewöhnlich laut und herrisch verhält, was das toxische Männerbild unterstreicht. Gegenüber der Gerichtspsychiaterin zeigt er sich nicht nur vorlaut, sondern schreit sie an, nur um kurz darauf völlig apathisch zu wirken.
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Familienstrukturen und Geschlechterrollen: Wo Misogynie entstehen kann
Wie Jugendliche Geschlechterrollen und Beziehungen zwischen Männern und Frauen wahrnehmen, wird stark von ihrer familiären Erziehung geprägt. „Natürlich ist es ganz prägend, wie eine Familie aufgestellt ist. Ich will nicht sagen, dass nur die Eltern dafür verantwortlich sind, aber sie spielen eine zentrale Rolle“, erklärt Harmankaya.
In Familien, in denen traditionelle Geschlechterrollen stark vertreten sind, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich eine ablehnende Haltung gegenüber Frauen entwickelt. „Sprüche wie ‘Ein Mann kennt keinen Schmerz’ oder das ständige Betonen von Härte vermitteln das Gefühl, dass Männer keine Gefühle haben dürfen, was zu einer psychischen Vernachlässigung führen kann“, sagt Harmankaya.
Jugendliche, die in solchen Umfeldern aufwachsen, suchen dann oft Bestätigung in den toxischen Ideologien, die in den sozialen Medien verbreitet werden. „Sie orientieren sich nach außen, weil sie zu Hause keine Hilfe oder Verständnis für ihre Gefühle finden“, so Harmankaya weiter.
Das kann langfristig dazu führen, dass Jugendliche den Glauben an die Gleichwertigkeit der Geschlechter verlieren und in eine Misogynie abrutschen.
Der Täter als Opfer? Psychologische Einblicke in die Figur Jamie
Ein kontroverser Aspekt der Serie ist die Darstellung von Jamie, dem Hauptcharakter, der immer mehr in eine gefährliche Richtung abdriftet. Harmankaya betont, dass es wichtig ist zu verstehen, dass nicht jeder, der in einer ähnlichen Situation wie Jamie steckt, automatisch zu einem Täter wird.
„Nicht jeder, der so eine Tat begeht, hat eine psychische Störung. Jeder von uns ist zu gewissen Taten fähig. Natürlich ist eine gewisse Belastung, wie bei Jamie, ausschlaggebend: Der Vater von Jamie ist eher jähzornig und nicht gerade ein Mensch, der viel über Emotionen spricht. Deshalb konnte er nicht mit ihm über seine Zurückweisung durch das Mädchen sprechen und seine Gefühle verarbeiten“, stellt die Psychiaterin klar.
Laut Harmakaya ist es möglich, dass die Serie eine Persönlichkeitsstörung bei Jamie andeutet, diese jedoch nicht die alleinige Ursache für sein Verhalten ist. Vielmehr seien es die psychosozialen Dynamiken, die durch das Umfeld und die Gesellschaft verstärkt werden, die zu solchen extremen Handlungen führen können.
„Möglich ist zwar, dass Jamie eine dissoziale Persönlichkeitsstörung hat oder entwickelt. Dieser Verdacht kommt auf, doch nichtsdestotrotz würde ich das Ganze eher in die Mitläuferschaft und leichte Beeinflussbarkeit durch Social Media und Co. einordnen“, so Harmankaya.
Die Perspektive des Opfers: Was bleibt ungesagt?
Ein zentraler Kritikpunkt an der Serie ist die fehlende Perspektive des Opfers. „Es wird wirklich sehr viel auf den Täter eingegangen, was vielleicht auch das Ziel der Serie war. Doch es geht wieder um einen Mann, um seine ‘schlimme Geschichte’, aber was mit dem Mädchen passiert ist, wie es ihr geht, darauf wird gar nicht eingegangen“, kritisiert Harmankaya.
Die Psychiaterin empfindet das als eine verpasste Gelegenheit, um zu verdeutlichen, wie sehr Gewalt die Opfer beziehungsweise deren Familie und Freund:innen beeinflusst. Sie betont, dass es entscheidend sei, auch die Perspektive der Betroffenen zu zeigen und aufzuzeigen, welche langfristigen Folgen solche Erlebnisse für die Opfer haben können.
Ein wertvolles, aber verantwortungsvolles Lehrstück
Abschließend lässt sich sagen, dass Adolescence viele relevante Themen anspricht, die in der heutigen Gesellschaft von großer Bedeutung sind. Die Serie thematisiert die Gefahren von Social Media, toxischen Männlichkeitsbildern und die Auswirkungen von Familienstrukturen auf die Entwicklung von Jugendlichen.
Harmankaya betont jedoch, dass die Serie nicht ohne kritische Begleitung konsumiert werden sollte – vor allem nicht von Jugendlichen ohne Unterstützung durch Erwachsene.
„Ich finde die Serie sehr wertvoll, jedoch wird mir zu wenig auf das Opfer und das Rollenbild der Frau eingegangen. Das spielt in der Serie eine große Rolle – Jamie hat nie seine Mutter dazugezogen, sie war nie seine Ratgeberin“, erklärt sie.
Für Harmankaya ist es entscheidend, dass Eltern und andere Bezugspersonen die Inhalte der Serie mit den Jugendlichen aufarbeiten und die dargestellten Themen erläutern. Nur so könne die Serie ihren vollen Wert entfalten und Jugendlichen dabei helfen, die komplexen psychosozialen Dynamiken zu verstehen und ein Bewusstsein für die Gefahren von toxischen Ideologien zu entwickeln.